Frühmittelalterliche Mobilität – Interdisziplinäre Zugänge

Frühmittelalterliche Mobilität – Interdisziplinäre Zugänge

Organisatoren
Laury Sarti, Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.09.2022 - 30.09.2022
Von
Helene von Trott zu Solz, Ludwig-Maximilans-Universität München

Die Mobilität im Mittelalter ist seit den 1990er-Jahren in der Geschichtswissenschaft ein zunehmend beliebter Forschungsgegenstand, doch scheinen die Möglichkeiten mit Blick auf das Frühmittelalter eingeschränkt. Während sich die Mobilität im Spätmittelalter anhand einer reichen Anzahl und Vielfalt von Quellen untersuchen lässt, erweist sich die Quellenlage für das frühe Mittelalter in vielerlei Hinsicht als unzureichend. Nicht nur sind generell weniger Schriftzeugnisse überliefert, sondern die zur Verfügung stehenden Quellen sind auch weniger ergiebig. Es bietet sich daher an, zukünftige Forschungen stärker in Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen, wie der Archäologie oder der Geographie, durchzuführen. Vor allem außerhalb der klassischen Geschichtswissenschaften hat es in den letzten Jahrzehnten bedeutende methodische und inhaltliche Neuerungen auf dem Gebiet der Mobilitätsforschung gegeben und eine stärkere Zusammenarbeit aller Disziplinen verspricht wichtige neue Erkenntnisse und Forschungsansätze. Die im September an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften veranstaltete WIN-Konferenz hatte sich zum Ziel gesetzt, eine Plattform für einen solchen interdisziplinären Austausch zu schaffen. Hierzu wurden in sieben Sektionen verschiedene Zugänge zur Erforschung von frühmittelalterlicher Mobilität vorgestellt und diskutiert.

Die erste Sektion war den Themen Reise und Austausch gewidmet und wurde von MARCO CRISTINI (Tübingen) eröffnet. Er untersuchte die Mobilität von Gesandten und Geschenken und übertrug dafür das in der Erforschung moderner Diplomatie verwendete Konzept der Kulturdiplomatie auf das sechste Jahrhundert. Dabei zeigte sich, dass die Zirkulation von Gesandten und Geschenken auch den Wissenstransfer zwischen den Eliten verschiedener Gruppen erleichterte. Indem sie anderen Herrschern exotische Tiere, ausgeklügelte technische Gegenstände oder Schätze sendeten, demonstrierten Könige und Kaiser nicht nur kulturelle Überlegenheit, sondern verfolgten gleichzeitig auch Langzeitziele, wie die Herstellung friedlicher Beziehungen. Königliche Gesandte hatten auf Reisen, neben ihren Aufträgen, oft auch eigene Ziele, wie SHIGETO KIKUCHI (Tokyo) aufzeigte. Auch wenn es aus den schriftlichen Quellen nicht immer direkt ersichtlich wird, gab es für eine Reise häufig mehrere Beweggründe. Meist lassen sich zum Beispiel neben einem Hauptmotiv auch zusätzliche Gründe erkennen, die Kosten und Risiken der Reise kompensieren sollten. Damit ein solches Unterfangen gelingen konnte, waren, je nach Reisendem, verschiedene Vorbereitungen notwendig, wie das Erlernen einer Fremdsprache oder die Beschaffung von Reiseerlaubnissen. Die Hindernisse für Mobilität und die daraus resultierenden Reiseverzögerungen spielen in der Forschung bisher kaum eine Rolle, wie CHRISTOPH MAUNTEL (Tübingen) feststellte. Anhand eines Vergleichs der Pilgerberichte der Egeria, der Vita Willibalds und dem Itinerarium des Bernard lasse sich nachvollziehen, dass zum einen individuelle Reiseerfahrungen scheinbar seit dem achten Jahrhundert wieder als erwähnenswert erachtet wurden und Verzögerungen zum Beispiel als Belehrungen für zukünftige Reisende in die Texte einfloss.

Die zweite Sektion befasste sich mit den Themen Reiselandschaft und Klima. MICHAEL KAHLE (Freiburg) zeigte auf, wie mithilfe von Künstlicher Intelligenz und „Machine Learning“ der Zusammenhang zwischen Mobilität und Klima analysiert werden kann. Informationen zu Zeit und Ort sowie zu Umwelt, Klima und Gesellschaft werden aus schriftlichen Quellen in ein hierzu erstelltes Programm eingearbeitet und klassifiziert. Diese Daten ermöglichen es, Indizes abzuleiten, die nach Kalibrierung eine Analyse möglich machen. So könnten zum Beispiel Wettermuster und Zeitreihen erkannt und mit den Informationen der Zusammenhang zwischen Mobilitätsfaktoren wie Transportmittel und Wetterbedingungen untersucht werden. Am Beispiel der ostthüringisch-sächsischen Königslandschaft erklärte PIERRE FÜTTERER (Magdeburg), wie Geographische Informationssysteme (GIS) in Kombination mit einer Datenbank genutzt werden könnten, um die Raumstrukturen der Ottonenzeit zu analysieren. Erkennbare Muster in der Verteilung der Pfalzen und Herrschaftsmittelpunkte würden unter Umständen außerdem Hinweise auf ein geplantes Handeln bieten. WOUTER VERSCHOOF-VAN DER VAART (Leiden) stellte mit CarcassonNet, eine neue, nach dem bekannten Brettspiel benannte, Methode der Archäologie vor, die eine kostengünstige systematische Kartierung von Hohlwegen ermöglichen soll. Auf der Basis von „Light Detection and Ranging“ (LiDAR)-Daten können Hohlwege und alte Karrenwege mithilfe von „Deep Learning“ und Bildverarbeitungsalgorithmen erkannt und verfolgt werden. Dabei werden nur einzelne Abschnitte untersucht, die dann in ein Gesamtbild zusammengesetzt werden.

Weitere archäologische Herangehensweisen und die mit ihnen verbundenen Herausforderungen wurden in der Sektion zur Infrastruktur und digitalen Rekonstruktion beleuchtet. IRMELA HERZOG (Bonn) sprach über die Methode des „least-cost path“ (LCP) und weshalb in früheren Replikationen von Handelsrouten durch LCP-Berechnungen die optimalen Kostenparameter sowie die erzielten Replikationsleistungen variierten. Als Gründe ließen sich unter anderem Fehler in der ursprünglichen Digitalisierung, die Landschaftsveränderungen seit dem Mittelalter sowie Veränderungen in Bezug auf Bedeutung und Zweck der alten Strecken erkennen. ANNA SWIEDER (Halle) stellte mit ihrem Vortrag zum Potenzial von LiDAR-Daten weitere Aspekte dieser Methode für die Erfassung mittelalterlicher Straßen und Wege vor. Für das verwendete Beispiel des Harzes ließen sich verschiedene Gruppen von Hohlwegen, zum Beispiel anhand ihrer spinnennetz- oder fächerartigen Formen, ausmachen. Auch auf die unterschiedlichen Funktionen und Verbindungen der Wege könnten Rückschlüsse gezogen werden. Eine Herausforderung für die vorgestellte Methode seien Wasserkanäle, die in den LiDAR-Daten nicht immer von Hohlwegen zu unterscheiden sind und auch Fragen zu der Datierung müssten offen bleiben.

In der darauffolgenden Sektion zur überregionalen Mobilität und den damit verbundenen Netzwerken bot MICHEL SUMMER (Heidelberg) eine Neubewertung zur Bewegung insularer Kleriker von Britannien und Irland in das fränkische Reich zwischen dem frühen siebten und der Mitte des achten Jahrhunderts mit Hilfe schriftlicher Quellen. Die Mobilität der Kleriker sei weitaus weniger systematisch und deutlich heterogener als bisher angenommen. Dabei seien signifikante individuelle Handlungsspielräume zu erkennen, die unter Berücksichtigung der lückenhaften Beschaffenheit der Quellen weiterer Untersuchung bedürften.

Die anschließende Sektion zur lokalen Mobilität und Gesellschaft untersuchte kleinräumigere Mobilität. ABEL LORENZO-RODRÍGUEZ (Santiago de Compostela) wies auf die Bedeutung der Untersuchung von „push factors“ hin und sprach über frühmittelalterliche Mobilität in Iberien als Form der Bestrafung – dem Exil. Dabei zeige sich, dass eine Verbannung nicht mit dem Ausschluss einer Person aus dem eigenen Königreich oder einer Region verbunden sein musste. Häufig impliziere sie nur den Ausschluss aus einer bestimmten Stadt oder den Wegzug an einen Ort außerhalb eines Radius von 40 bis 100 Kilometern von der Heimat. Neben der Bestrafung für soziale und kriminelle Verbrechen, habe das Versprechen ins Exil auch eine Möglichkeit dargestellt, um Vergebung zu bitten und eine sichere Rückkehr zu verhandeln. LUCAS MCMAHON (Princeton) untersuchte militarisierte Mikromobilität im frühmittelalterlichen Herzogtum Perugia. Dabei stellte er sein „GIS Slow Movement-Modell“ vor, das es ermögliche mobile Elemente und Faktoren wie die Hydrologie zu berücksichtigen. So ließe sich beispielsweise der Weg einer täglichen Patrouille rekonstruieren.

LAURY SARTI (Heidelberg/Freiburg) eröffnete die Sektion Mobilität und Prosopographie und diskutierte am Beispiel der Briefsammlung des Gerbert of Reims († 1003) inwiefern sich Mobilität anhand von Briefen nachweisen lasse. Die Überlieferung von etwa 220 Briefen ermögliche eine quantitative Analyse, wobei große Überlieferungslücken und mangelnde Orts- und Datumsangaben ein häufiges Problem darstellten. Eine prosopographisch Herangehensweise ermögliche es dennoch, einen Eindruck der Mobilität und Netzwerke sowie der damit einhergehenden Dynamiken um zentrale Figuren zu erlangen und dadurch auch einen sehr eingeschränkten Einblick in die Mobilität von Personen, die nicht zu den Entscheidungsträgern gehörten. Auch RUSSELL Ó RÍAGÁIN (Belfast) ging prosopografisch vor, und untersuchte die Veränderungen in den Mobilitätsmustern in der skandinavischen Diaspora mit Verbindungen zu Irland und Großbritannien. Hierzu stellte er das Beispiel von fünf Figuren aus fünf Jahrhunderten vor, die sich anhand zeitgenössischer insularer und kontinentaler Dokumente aus dem Zeitraum von 790 bis 1310 fassen ließen.

Die abschließende Sektion widmete sich den Seereisen und der Orientierung auf dem Meer. JAN BILL (Oslo) ging der Frage nach, wann und wie das Segel in der skandinavischen Schiffsfahrt aufkam. Bei der Betrachtung und Untersuchung verschiedener skandinavischer Schiffstypen ließe sich nachvollziehen, dass es eine Überschneidung im Gebrauch von Segel- und Ruderschiffen gegeben hat. Beim Segelschiff sei außerdem eine zeitlich und räumlich unterschiedliche Entwicklung zu beobachten – es handele sich daher beim Segel nicht um eine revolutionäre Entdeckung, sondern um eine Adaption. Abschließend bot BART HOLTERMAN (Göttingen) einen Einblick in das digitale Projekt Viabundus, das Befunde aus dem späteren Mittelalter und der frühen Neuzeit bearbeitet und auch Rückschlüsse auf frühmittelalterliche Seereisen zulässt. Viabundus ist eine frei zugängliche, interaktive Straßenkarte, die Handelsrouten, Straßennetzwerke und Informationen zu Siedlungen aus dem Zeitraum von 1350 bis 1650 in Nordeuropa sammelt und visualisiert. Eine besondere Herausforderung stelle dabei die Erschließung von Seerouten dar, die nur durch die Verknüpfung verschiedener Herangehensweisen, wie die Berechnung von „least cost paths“ – die Strömungen und Winde einbeziehen –, kombiniert mit den Charakteristika bekannter Schiffstypen, möglich sei.

Die vielen verschiedenen Blickwinkel und Ergebnisse der Tagung zeigten unterschiedliche Zugänge, welche die einzelnen Disziplinen bieten und belegen dadurch, wie gewinnbringend interdisziplinäre Zusammenarbeit sein kann. Vor allem im Hinblick auf die frühmittelalterliche Mobilität bieten die besprochenen Methoden und Herangehensweisen überzeugende Möglichkeiten, um das Unterwegssein dieser Epoche über die wenigen Angaben aus den Schriftquellen hinaus zu untersuchen. In den Diskussionen und Pausen wurden vielversprechende Projektideen und wertvolle Hinweise ausgetauscht, die die Geschichtswissenschaft hoffnungsvoll auf die Zukunft der Erforschung des Themas blicken lassen können. Der geplante Aufsatzband wird über die hier diskutierten Vorträge hinaus auch jene Beiträge aufnehmen, die im Rahmen der Tagung krankheitsbedingt ausfallen mussten.

Konferenzübersicht

Laury Sarti (Heidelberg/Freiburg): Begrüßung und Einführung

Sektion I – Travel and Exchange

Marco Cristini (Tübingen): Exotic gifts and learned envoys. Sixth-century cultural diplomacy on the move

Shigeto Kikuchi (Tokyo): Motivations for travels in the Carolingian age

Christoph Mauntel (Tübingen): Waiting. On a hitherto neglected dimension of early medieval mobility

Sektion II – Mobility in the Material Evidence (die gesamte Sektion musste krankheitsbedingt ausfallen)

Mateusz Fafinski (Berlin/Tübingen): The textual infrastructure of mobility in the post-Roman west. Charters, letters, manuscripts

Tobias Gärtner (Halle): Keramik als Indikator für Mobilität und Migration im frühen Mittelalter

Orsolya Heinrich-Tamaska (Leipzig): Mobilität von Objekten? Archäologische Zugänge am Beispiel der frühmittelalterlichen Fundkomplexe von Kunbábony und Malaja Pereščepina

Sektion III – Travel Landscape and Climate

Michael Kahle und Rüdiger Glaser (Freiburg): Climatic conditions and mobility in the Middle Ages. Hermeneutics and artificial intelligence approaches

Pierre Fütterer (Magdeburg): GIS als Mittel zur Analyse mittelalterlicher Raumstrukturen

Wouter Verschoof-Van der Vaart (Leiden): Using automated detection and citizen science to reconstruct medieval travel landscapes

Sektion IV – Infrastructure and Digital Reconstruction

Irmela Herzog (Bonn): Issues in reconstructing past movement patterns based on known old roads

Anna Swieder (Halle): Vergessene Pfade. Das Potenzial von LiDAR-Daten zur Erfassung alter Straßen und Wege in mittelalterlichen Kulturlandschaften

Section V – Interregional Mobility and Network

Michel Summer (Heidelberg): The mobility of clerics between Ireland, Britain and Francia (c. 640–750). Preconditions, networks, strategies

Johannes Preiser-Kapeller (Wien): Digital Approaches towards mobility, migration, and connectivity across medieval Afro-Eurasia. Networks, routes, circualtions (Vortrag musste kurzfristig ausfallen)

Sektion VI – Local Mobility and Society

Abel Lorenzo-Rodríguez (Santiago de Compostela): South by northwest. Short-distance exile and outlaws in Iberia during the early Middle Ages

Lucas McMahon (Princeton): Holding the lynchpin of Byzantine Italy. GIS approaches to local military mobility in the Duchy of Perugia

Sektion VII – Mobility and Prosopography

Laury Sarti (Heidelberg/Freiburg): The mobility attested in the letters of Gerbert of Aurillac/ Pope Sylvester II (†1003)

Russell Ó Ríagáin (Belfast): Shifting patterns of mobility in the insular Scandinavian diaspora, c. AD 790-1310

Sektion VIII – Sea Voyages and Orientation

Jan Bill (Oslo): Sails in Scandinavia – revolution or adaption?

Bart Holterman (Göttingen): Considerations about the mapping of sea routes for the premodern street map Viabundus (1350-1650

Abschlussdiskussion